Freitag, 23. Oktober 2009

Kurzgeschichte 2. Teil

Es sieht vielleicht auf den ersten Blick so aus, als würden der erste und zweite Teil nicht zusammengehören. Bei genauerem Lesen und spätestens im dritten Teil wird der Bezug aber deutlich. Viel Spaß beim Lesen…


Vortrag. Du musst auf den Wecker drücken. Ein unmenschliches Geschrei drang in mein Ohr, laut, wieder und wieder hallend. Drück auf den Wecker, das ist ein Befehl! Ich wusste längst, dass ich verschlafen hatte und der Wecker meldete es gehorsam. Ich trag die Sachen von gestern noch? Eingeschlafen, scheiße, los, los. 8:30 Uhr. Das bedeutete 4 Stunden Schlaf. Etwas weniger. Beeil dich und du kannst die Klausur noch mitschreiben. Wenn der Computer im Standby ist, muss ich die Maus bewegen, damit er wieder läuft. Der Computer war im Standby, ich bewegte die Maus, der Computer lief. So einfach war die Welt. Für einen kurzen Moment, den ich doch nicht hatte, bekam ich den Zweifeln, ob im Hintergrund das Protokoll meiner Masterarbeit (nicht Diplom) oder die Startseite von Youporn erscheint? Los, los, geh und verbesser die Welt. Gestern noch wusste ich todsicher, man müsse einfach nicht mehr schlafen, es wäre Verschwendung. Heute war es das absolut nicht, ich war tot und hätte alles dafür gegeben, ruhen zu können. Mach schon! Aber wer hat schon alles und so holte mich das Leben. Das ganze Wochenende kam ich ohne Schlaf aus. Wie sagt man, die Nächte durch lernen? Lass das! Es musste schnell gehen. Frühstück? Brauch ich nich, kauf mir eben was in der Cafete. Auf dem Küchentisch lag noch die angebrochene Packung von gestern. Nehm ich sie mit? Ich sollte nicht, ich hasse das Zeug, man fühlt sich schlecht. Hab ich alles? Los geht's, nein! Nimm sie doch mit. Nur für alle Fälle, vielleicht brauchst du es bei der Klausur, bedenke, du hast wenig geschlafen und nicht gefrühstückt. Zwei Minuten, sonst ist alles verloren. Okay, endlich hatte ich alles: Schlüssel, Handy, (meine Freundin hatte fünf Mal angerufen) Portmonee, die Packung Ritalin, Stift und Papier.

Mit dem Schritt in die Bahn veränderte sich die Welt. Schon der Schritt ist anders. Meine Beine marschieren automatisch und weil die Bahn teilweise untertage fuhr, wurde der Tag zur Nacht, die Lichter gingen an, die Türen schlossen, die Welt war zu. Hier stand ich also tot zwischen den ganzen Anderen. Schau sie nicht so an, an denen ist nichts Besonderes. Ihre Gesichter waren auch nicht ausgeschlafener. Wenn ich aus dem Fenster schaute, sah ich mich. Da war er, der Zweite von mir. Der, der den ganzen Tag hoffte, warnte, hinwies und mahnte. Mein Spiegelbild riet mir die Augen zu schließen, ich tat es nicht, warum sollte ich mich in der Bahn unterwerfen? Dahinter gab es eine wohltuende schwarze Leere. Gut, sehr gut: Draußen sieht´s genau so aus wie innen (nicht drinnen). Ich war zu spät, aber ich kann nix machen. Der Zug fährt eben nicht schneller. Reg dich jetzt nicht auf. Mehr kannst du nicht tun. Im Blick der schwarzen Leere kann ich denken. Früher nannten sie das Eilzug. Warum bloß? Gerade hier war´s ruhig, schwarz, leer. Vielleicht Weilzug. Ich bin schon ein Wortspieler! Hör auf damit, sagte der Zweite! Geh lieber nochmal alles durch: Kannst du, kannst du, kannst du, kannst du auch, kannst du... In Ordnung, die ganze Liste. Es musste ne 1.0 werden. Man musste nichts können, hören und mitschreiben, danach lesen, lernen und hinschreiben. Also warum hast du Angst? Konnte nichts kommen, was du nicht kannst, nur Reproduktion. Wenn doch keine 1.0? Hör auf zu schwitzen, siehst du nicht wie nass du bist! Ich musste nur die Zeit haben, auswendig zu lernen, mehr nicht. Die mit der meisten Zeit, waren die mit den besten Noten und später die mit dem meisten Geld. Mit Geld kaufte man Zeit und somit war man wieder der mit der meisten Zeit. Mach dir keinen Kopf. Ich regel das schon für dich. Du hast die Zeit genutzt, irgendwann legst du dich auf deine Couch. Jetzt aussteigen. Also stieg ich aus und krabbelte Richtung Uni. Beeil dich, aber renn nicht, das sieht scheiße aus. Neben der Cafete sah ich fünf Typen mit Rastas und Neonklamotten. Offenbar hassten sie alle. Wahrscheinlich stanken sie. (Neben mir schlich irgendein Penner.) Sie schrien rum und hielten Schilder hoch. Ich ignorierte es, hörte nicht, was sie schrien, sah nur ihre Lippen bewegen und ein Schild: "Bildung wird täglich geringer, weil die Hast... Scheiß drauf, renn doch lieber!

Montag, 12. Oktober 2009

Kurzgeschichte 1. Teil

Anfang. Begrüßung. Wie immer saß er auf seinem Platz. Es war derselbe wie am Tag zuvor. Jede Sitzung war es derselbe. Früher waren die einzelnen Sitzungen länger und mühsamer. Nun saß er einfach. Einen Stuhl oder Tisch, den er herunterklappen sollte, gab es nicht. Listen zum eintragen erst recht nicht. Er hatte nun aufgehört, zu tun und saß wie jemand der sitzen konnte. Zeit war unwichtig, sie war im Laufe der Zeit relativ geworden. Viertel Stunden begannen und endeten alle 15 Minuten. Der Ausdruck "zu spät" explodierte, mit der Bahn fuhr er nicht mehr und wo sein Rucksack lag, war längst egal. Am Anfang hatte er ein Schild vor sich aufgestellt, so dass die Leute es sehen mussten. Es war aber erfolglos und inzwischen kannten sie ihn und wussten, was er wollte. Er hatte auch kein Schreibzeug mehr. Er wurde von seinem Platz gefunden. Die Menschen gingen und sahen, wie sich sein Platz irgendwann an ihn gewöhnte zwischen all den anderen Plätzen und auch sie gewöhnten sich an ihn, bis er es schließlich selbst tat. Er trug nie viel mit sich herum und wusste, er würde nie viel tragen oder haben müssen. Und es war nicht das Schlimmste. Beim Essen und Trinken benutze er die Finger, machte laute Geräusche, atmete es ein, schmatze und schneuzte zufrieden vor sich hin. Im Reinen, sagte er, war er mit sich.

Früher hatte er oft die vorbeigehenden Massen betrachtet, sah ihnen zu, wie sie rannten und hetzten, immer sehr beschäftigt, telefonierend oder in Bücher schauend. Aber er sah mehr in ihren Gesichtern, wie sie auf ein Bestimmtes etwas zuliefen, sich ihre Schritte schnell aber gewollt den Weg entlang fraßen, zu Hunderten und mehr und manchmal musste er lachen, wie sie alle wie Ameisen aus einem einzigen Loch kamen und sich in Richtung der großen Gebäude kämpften, nie zur Seite oder gar einen Anderen anschauend, nur auf ein Ziel gerichtet, wie sie wettliefen. Früher war er mit Ihnen gelaufen, aber es reichte nicht. Manchmal beobachtete er sie Wochenlang, jeden Tag auf den Weg zu ihren Sitzungen. Er sah ihnen zu und wenn es eine Gelegenheit gab, rasierte er sich oder wusch sich den Dreck unter den Nägeln. Danach bekam er Durst und trank. Irgendwann würde er auch hingehen. Einfach mitlaufen. Woran sollten sie es merken? Er holte eine kleine Flasche aus der Innentasche seines Mantels und nahm einen weiteren großzügigen Schluck. Trank sich innere Farben an. Nicht weil er es brauche oder so, sondern einfach, weil er es genoss, weil es ihm schmeckte und er sich besser fühlte.

Saß er nicht, ging er. Immer zu Fuß. Langsam stand er dann auf und blickte noch einmal um sich. Trank. Atmete. Ein Ziel gab es nicht, wo solle er schon hingehen. Durch sein Gehen, ließ er die Zeit laufen. 10 Jahre waren bereits verlaufen. Dabei schaute er in die Mülltonnen, kramte in ihnen mit seinen Fingern und es war wie das Laufen. Nichts, das er finden wollte.

Beim Gehen sah er wieder die Menschen an, suchte Blickkontakt. Dieses war das Lustigste. Er schritt an Ihnen vorbei und schrie plötzlich oder lachte schrill. Einige wenige zeigten offensichtlich, was sie empfanden und es wunderte ihn, dass sie empfanden. Die Meisten gingen einfach weiter. Er dachte: Ameisen. Tote.

Früher bedankte er sich noch bei allen. "Hab Dank", sagte er einige Male. Aber wenn man schon gab, dann wollte man auf keinen Fall mit ihm reden. Erst dann begriff er, dass er genau das tun sollte. Wenn er sprach oder ging oder sonst was tat, war es nicht gut. Im Bus sah man ihn nur allzu ungern. Wenn er seinen Platz auf der Decke hatte, war es gut. Ein Hund wäre noch besser gewesen. Er verstand, dass er gar nicht zu betteln brauchte und dass sie ihm auch keine Spenden gaben. Sie gingen, sahen ihn auf seinem Platz und warfen ihm was hin. Als ob es ihn nicht gebe, rennen sie hektisch weiter. Sie taten das gar nicht für ihn, sie warfen die Münzen für sich selbst dahin und deshalb brauche er sich auch nicht mehr zu bedanken. Sie spendeten nicht, sondern bezahlten ihn, bezahlten dafür, dass er nichts tat, seine Zeit hortete und sie waren dankbar für sein Nichtstun. Es zeigte ihnen, dass sie was schafften und sie fühlten sich toll, nachdem sie das Geld geworfen hatten. Er wusste, früher oder später kam jeder zu ihm und bezahlte: Sie wollten sich ein wenig von seiner Ewigkeit leihen. Alle hatten Gebühren, niemand einen Moment. Nur einmal protestierte einer: "Deine Zeit möcht ich haben, aber ich muss zur Uni". Dann bezahlte auch er und lief. Die nächste Bahn hatte gehalten, wieder waren Hunderte Ameisen ausgestiegen. Er würde bestimmt nicht auffallen.

Samstag, 3. Oktober 2009

Warten von Helena K.

Ich bin ein Kind kurz vor Weihnachten, ein Mönch vor der Erleuchtung,

ein Reisender auf einem Bahnsteig.

Ich bin ein Paar kurz vor dem Höhepunkt und ein Junkie kurz vor dem Trip.

Ich sitz hier und warte auf das Leben, wo bleibt es nur?

Ich warte auf dich, jetzt beeil dich doch mal,

damit ich in Ruhe ein Weilchen weiter warten kann.

Ich warte auf die große Party, wo alles bunt und hell und laut ist.

Ich warte mich von Tag zu Tag.

Ich warte auf das, was sie Selbstverwirklichung nennen, auf die große Liebe,

auf den ersten, zweiten, dritten Frühling. Ich warte auf ein Ding, das die Leere füllt.

Ich warte auf den Bausparvertrag, auf Mann, Kinder und Eigenheim,

(man hat mir gesagt, diese Dinge seien erstrebenswert).

Ich warte auf Visionen und Bewegungen, auf das verdammte Glück,

und vor allem auf den Sinn, den das alles haben soll, dieses Leben. Den Sinn.

Ich warte auf ein Ende des Wartens.

Ich warte auf alles, was die Welt mir versprochen hat

Als ich zu ihrem Bewohner wurde.

Ich warte auf die finanzielle Sicherheit, den guten Wein,

Auf die Senseo-Kaffeemaschine und den englischen Garten.

Auf die ganz große Zukunft.

Ich warte auf den Wind in meinem Haar und auf die Träume.

Denn sie haben mir gesagt: "Warte."

Sie sagten: "Du hast die besten Jahre deines Lebens vor dir."

Sie haben mir gesagt: "Das wird eine geile Zeit."

Als ich klein war haben sie mir gesagt: "Warte, bist du groß bist. Dann fängt das Leben an."

Dann war ich groß und sie sagten: "Warte, bist du reif bist. Dann fängt das Leben an."

Und wenn ich dann reif bin werden sie sagen: "Mit 66 Jahren fängt das Leben an."

Und wenn ich dann tot bin….

Dann sind alle Züge abgefahren. Klappe zu, Affe tot.

Ende im Gelände. Und das Warten hat sich nicht gelohnt.

Dann wird irgendwo lachend das Leben aufkreuzen und sagen:

"Ich hab's dir ja gesagt. Während du auf mich gewartet hast,

hab ich mir mal ein bisschen Urlaub genommen

und es mir in deinen Träumen gemütlich gemacht

In einer Hängematte aus vernachlässigten Plänen."

Und während ich kapiere, dass alles, worauf ich gewartet habe,

meilenweit hinter mir liegt, hör ich noch das Lachen des Lebens in mir widerhallen.

"Die Züge sind abgefahren. Klappe zu, Affe tot.

Ende im Gelände. Und das Warten hat sich nicht gelohnt."

Und ich denke, tja, das war's dann wohl.

Ich mach die Tür von außen zu.

Dann falle ich und warte auf den Aufprall.

Ich warte und warte.

Bis ich aufwache und weiß, was ich tun muss.